Heftchen
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Schreiben zu Hause
Schreiben zu Hause
Illustration von Simone Weber
Illustration von Simone Weber

Culture

Den Lockdown kreativ genutzt und in Geschichten eingetaucht

Unter dem Titel «Das Geheimnis zwischen den Buchdeckeln» überlegten wir uns während dem Lockdown, welche Wesen aus den Buchseiten zum Leben erwachen und was in einer einsamen Bibliothek so alles passieren kann.

Organisiert von Swantje Kammerecker und Simone Weber fand im April die sogenannte Corona-Ferien-Schreibchallenge statt: ein Aufruf an alle kleinen kreativen Köpfe, denen zu Hause die Decke auf den Kopf fällt, trotz dem Ausfall der monatlichen Schreibtreffs eigene Texte zu entwerfen – und es gab wirklich tolle Beiträge! Alle Geschichten wurden zu einem kleinen Heft zusammengestellt, eine Sammlung, die so vielfältig ist wie die Fantasie eines jeden Teilnehmers. Das Heft kann bei der Baeschlinbuchhandlung oder bei mail@textkammer.ch bezogen werden.

Im Folgenden möchte ich Ihnen gerne meine eigene Geschichte präsentieren:

 

Zuerst war es nur ein tiefer Ton. Leise, aber stetig lauter werdend, erhob er sich aus dem Nichts, in dem das Wesen seit Ewigkeiten trieb. Vielleicht dauerte er nur ein paar Sekunden an, vielleicht aber auch ein paar Stunden – oder Jahre? Es war unmöglich zu bestimmen.

Aber Zeit spielte an diesem Ort sowieso keine Rolle. Nichts spielte eine Rolle.

Bis der zweite Ton erklang. Etwas höher, aber dennoch so intensiv wie der Vorherige. Und es war der Moment, in dem das Wesen zum allerersten Mal diesen Drang verspürte. Als würde man es rufen.

Ein Dritter und vierter Ton folgten.

Wenn die Töne, wie das Wesen, erst bedeutungslos gewesen waren, wurden sie jetzt jedoch immer sicherer und schienen sich immer mehr zu einer… Melodie zusammen zu schliessen.

Lange nicht mehr – vielleicht noch nie – hatte sich dieses Wesen bewegt. Es hatte kaum gespürt, dass es existiert, und hatte noch nie zuvor geahnt, dass es noch etwas Anderes als diese Leere gab.

Getragen von den Tönen der Melodie, begann das Wesen, sich zu rühren. Es streckte und reckte sich, hin zu dieser uralten, magischen Musik. Da – das Wesen stiess gegen Irgendetwas – eng aneinandergepresste Papierseiten, vergilbt und verstaubt. Aber es zwängte sich weiter vorwärts.

Etwas Helles drang zu ihm hindurch – Licht!

Echtes, warmes, helles Licht!

Das Wesen erkannte den Ort, an dem es sich jetzt befand, erinnerte sich an die Worte, die Ihn umgaben, die schon seit seiner Existenz aufs Papier gebannt waren. Erinnerungsfetzen strömten auf das Wesen ein – es war schon so lange her…

Während die Erinnerungen und Emotionen sich weiter häuften und alles nach und nach Sinn zu machen begann, schob sich das Wesen weiter. Immer weiter, hin zu der Melodie, zu der Magie, die in den Klängen verborgen lag. Es zog das Wesen hinaus aus diesen Worten, aus diesen Seiten, die es zurückhalten wollten.

Plötzlich prallte es so stark gegen etwas hartes, dass diese Barriere sofort aufflog. Ohne es gesehen zu haben wusste das Wesen, dass es der Deckel dieses Käfigs – seines Zuhauses – gewesen war. Ein Deckel, der es nun nicht länger zurückhielt, aber auch nicht länger schützte.

Reinste Macht pulsierte in seinem Inneren und als es aus dem Buch hinausschoss nahm es Gestalt an. Es fühlte, wie sich spitze Klauen bildeten, wie sich Flügel formten und wie sich sein Blick klärte und schärfte. Das Wesen, das sich in der Bibliothek erhob war nicht mehr nur das Ergebnis von schwarzer Tinte auf Papier. Nein, es war viel mehr.

Bis zur hohen Decke der Bücherei schoss es empor, das goldene Licht erfüllte nun den gesamten hohen Raum, jedes der Bücher glühte in dem leuchtenden Schein. Trotz der dunklen Nacht war es hier drinnen taghell.

Und in diesem Moment begannen sich überall zwischen den Ritzen in den Regalen und aus den Einbänden und Wandgemälden heraus fantastische und weniger fantastische Wesen zu erheben und Form anzunehmen. Sie alle folgten der Melodie, so wie der Drache es getan hatte, der nun in voller Pracht über allem schwebte.

Er war frei. Sie alle waren frei und fühlten sich so lebendig wie noch nie zuvor.

Der Drache stiess ein lautes Brüllen aus, so viel lauter als die Musik, dass es bis in den letzten Winkel dieser Welt zu hören war.




Text und Bilder von Charlotte Freund

Autor

Kulturblogger Glarus

Catégorie

  • Culture

Publié à

28.06.2020

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